Es heißt, Wahnsinn sei erblich. Das stimmt: Eltern bekommen ihn von ihren Kindern.

Nachhilfe

Als mein Sohn im echten, und ich meine: im echten, Teenager-Alter war, fing er natürlich auch an, nicht mehr meinen Ratschlägen zu folgen, sondern seine eigene Logik zu entwickeln. Zum Beispiel diese: „Ich weiß nicht, warum ich gerade Mathe vernachlässige. Es gibt so viele Fächer, die zu vernachlässigen wären. Aber ausgerechnet Mathe macht mich immer lethargisch.“
Davon war er zutiefst überzeugt. Eines Tages jedenfalls rief er kurz vor 20 Uhr in der Redaktion an:
„Mom, ich wollte nur mitteilen, dass wir morgen über Tangentenprobleme schreiben – und ich wahrscheinlich alles vermasseln werde.“
„Warum?“
„Ich verstehe die Elementargeometrie einfach nicht.“
„Du hast also nicht gelernt?“
„Das kann sein. Ich will ja nur nicht, dass du dich dann aufregst. Es ist einfach höhere Gewalt.“

Ich bewunderte meinen Sohn für seine Chuzpe. Er war faul, aber nicht dumm. Seine guten Manieren rieten ihm, mich vorzuwarnen. Und doch mein lieber Schatz: Noch bin ich deine höchste Gewalt.

Ich suchte sofort eine Nachhilfemöglichkeit im Internet. Lernkreise, Schülerhilfen und so. Wahnsinnig konnte ich später werden, jetzt musste ich erst mal entschlossen handeln. Ich tippte und wählte und ließ es klingeln. Alles schien aussichtslos. Es war 20 Uhr durch.

Plötzlich nahm ein Herr das Telefon ab. Er sagte, ich hätte Glück, er sei nur noch zufällig da. Ich erklärte ihm die Situation, versuchte, nicht wie eine überspannte Mutter zu wirken – und völlig überraschend versprach er, sich etwas zu überlegen.

Zehn Minuten später rief er zurück. Er hatte tatsächlich einen Nachhilfelehrer gefunden, der bereit war, noch am selben Abend zu helfen. Ich liebe diese Stadt!!!

Ich rief zu Hause an und sagte: „Sohn, du begibst dich jetzt sofort in die Karl-Marx-Allee, dort …“
„Das ist nicht wahr!“ Schockschwere Atemnot am anderen Ende.

Nach Mitternacht kam ein leidlich erschöpftes Wesen nach Hause. Die Klausur lief dann gut.

Und mein Sohn? Hat viel gelernt. Vor allem über Logik: Die ideale Zeit für die „Mom-ich-wollte-nur-mitteilen“-Ansprache ist erst nach Mitternacht. Schlau wie er ist, hat er nie wieder eine bevorstehende Niederlage schon um 20 Uhr angekündigt.