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Als mein Sohn vor ein paar Jahren seine erste eigene Wohnung bezog, war ich so stolz. Und so traurig. Nahezu mühelos  konnte er sich plötzlich selbst versorgen. Ich war  ein bisschen enttäuscht, dass er mich kaum brauchte und empfand Trennungsschmerz. Doch es kam noch schlimmer...

 

Mein Mann meinte: „Du musst lernen, loszulassen. Du kannst nicht dein Leben lang die Kinder überbehüten. Du solltest deine Aufgeregtheit runterfahren“. Sicher hatte er recht. Und meine Mamel sagte noch: „Die kürzeste Fessel ist die lange Leine. Du musst ihn gehen lassen, um ihn zu halten.“ Also gut, okay. Ich tröstete mich damit, dass Raoul nach Charlottenburg zog, die Gegend war wohl recht ordentlich und sicher.

Ich hatte keine Ahnung, dass jene Gegend „Charlottengrad“ genannt wurde. Jedenfalls war kaum die neue Wohnung bezogen, da hörte ich auf dem Nachhauseweg im Radio eine Warnung: Die Kantstraße sei „streckenweise gesperrt, weil sich ein Amok-Schütze in einer Wohnung verbarrikadiert“ habe. Der Schütze hatte abends gegen halb acht in einem Imbiss jemanden angeschossen und war dann nach Hause geflohen. Nun versuche die Polizei, mit ihm zu verhandeln.

AmokNun, ich sollte ja lernen, loszulassen und nicht zu übertreiben.   Also  okay:  Die Kantstraße ist lang.  Es wird ja nicht der Abschnitt sein, wo mein Sohn seit zwei Tagen wohnte.

Zuhause  erzählte ich dann meinem Mann – betont unaufgeregt – von dem Ereignis. Wir schalteten die Nachrichten ein und hörten: „Elitepolizisten und Präzisionsschützen“ seien am Einsatzort.  Und wir sahen: Ralf M., schwer bewaffnet,  winkte der Polizei von seinem Fenster aus zu. Und über jenem Fenster? Sah ich exakt das Fenster meines Sohnes!

Ich war völlig außer mir. „Handy! Handy! Raoul, wo bist du! Wo genau?“ Zum Glück war mein Sohn  unterwegs. Ich rief ihm zu: „Der Typ, der unter dir wohnt, rastet gerade total aus. Um Himmels Willen,  bitte komm heute Nacht zu uns.“ Tatsächlich feuerte der Amok-Nachbar noch fast 100 Schuss ab. Als das SEK dann um 0.48 Uhr mit Blendgranaten in die Wohnung eindrang, hatte sich Ralf M. selbst umgebracht.

In jener Nacht beschloss ich: Dahin geht mein Sohn nicht mehr zurück! Nein! Höchstens zum Ausräumen!

„Mom, bleib cool. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass da noch ein Amok-Schütze wohnt?“, fragte Raoul rhetorisch. „Das ist jetzt bestimmt die sicherste Gegend von Berlin.“

„Sicher“ war ein Argument, mit dem er mich  gewinnen konnte. Und Raoul  war froh, nicht seine erste Wohnung gleich wieder aufgeben zu müssen.

Einige Zeit später war wieder ein Polizeieinsatz im Haus. Mein Sohn rief mich kurz an, ich forschte sofort nach und berichtete ihm, dass es „nur ein Ehedrama“ war. Ein Mann hatte seine   Frau mit dem Messer bedroht. „Ah, okay“, sagte Raoul, „ich sehe vom Fenster aus, wie er gerade abgeführt wird“. „Okay“, sagte ich, „und wir bleiben cool“.

Wochen später, waren wieder Polizisten im  Haus. Sie warnten meinen Sohn, das Treppenhaus zu benutzen. Er solle „unbedingt  mit dem Fahrstuhl fahren“.  Raoul tat das, fuhr nach oben, die Fahrstuhltür öffnete sich – und er schaute direkt in den Lauf einer Polizistenpistole.  Der Polizist hatte ihn nicht erwartet. Raoul hatte das nicht erwartet.

Das war ein Schock, der keines weiteren bedürfte. War mir egal, ob ich als Übermama galt. Die Nerven lagen blank. Von wegen loslassen...

Bis dahin hatte ich jedes Mal, wenn in Raouls Haus etwas passierte, am Tag danach die Berliner Zeitung im Briefkasten meiner Mutter ausgetauscht, seitenweise. Den Polizeibericht habe ich in aller Frühe durch andere Seiten ersetzt.  Meine Mamel  sollte sich nicht wegen ihres geliebten Enkels aufregen.

Eine Woche später erzählte ich meiner Mamel: „Raouli zieht um“.

„Warum denn?“

„War uns zu unruhig da.“

„Aber Abini“, sagte meine Mamel, „das war doch eine nette Gegend . Ob du da nicht übertreibst?“

„Ja, kann sein“, antwortete ich.

„Siehste, ist doch ganz schön schwer, loszulassen“, stellte sie ein bisschen triumphierend fest.

„Ich wusste ja nicht, wie schwer“, sagte ich betroffen.

Warum ich dieses Abenteuer  erst jetzt aufschreibe ? Wir haben meiner Mamel nie davon erzählt.