Es ist ganz einfach, sich nachts zu verletzen. Aber es ist nicht einfach, nachts Krücken zu organisieren – vor allem: Wenn man nicht zur Rettungsstelle, sondern gleich verreisen will.
Die erste Lektion, wenn man sich einen Fuß verstaucht: Es ist schmerzhaft, aber es ist nur ein Fuß – man kann also einen klaren Kopf behalten. Die zweite Lektion, wenn man sich nachts einen Fuß verstaucht: Es ist spät, kein Sanitätshaus hat mehr geöffnet – man soll trotzdem einen klaren Kopf behalten. Die dritte Lektion, wenn man sich nachts einen Fuß verstaucht und in fünf Stunden eine Reise antreten will: Bloß nicht zur Rettungsstelle fahren, bei den Wartezeiten wäre die Reise futsch – man muss jetzt einen klaren Kopf behalten!
Es ist nachts um eins. Ich sehe gerade einen sehr spannenden Krimi: Da arbeitet eine Nonne für einen Menschenhändlerring und soll die rothaarige Adoptivtochter als Sklavin verkaufen. – Mein Gott ist das aufregend. Gleich kommt die finale Auflösung ...
Plötzlich klingelt es. Mein Sohn „steht“ vor der Tür. Dann humpelt er in die Wohnung. Ich schaue ihn irritiert an und höre was von „eben Fuß verstaucht“, „Reise geht gleich los“, „lästig“, „Woher Krücken bekommen“. Sofort bricht das mütterliche Element in mir durch und ich sage entschlossen: „Du bleibst bei uns!“ Mein Sohn schaut ebenso entschlossen mit seinem Das-ist-jetzt-nicht-dein-Ernst-Blick zurück.
Da bricht ein noch gewaltigeres mütterliches Element durch: Beherzt versuche ich nun, nachts Krücken zu organisieren. Mein Sohn windet sich: Ich weiß nicht, ob es wegen seiner Schmerzen oder wegen meiner verzweifelten Anrufe ist. Ich telefoniere viel. Nachts um zwei Uhr erreiche ich einen Apothekennotdienst, dabei gibt’s dort eigentlich nur Medikamente. Doch in der Apotheke am Rosenthaler Platz hilft mir eine sehr nette Dame weiter: „Kommse mal vorbei.“ Ich fahre hin, sie geht in den Keller und kommt mit zwei Krücken zurück. Als sie mir die gibt, bemerke ich einen kleinen Heiligenschein über ihrem Kopf. So sieht ein rettender Engel aus!
Um drei überreiche ich meinem Sohn die beiden Gehhilfen: Leichtmetall, Grau, Topqualität. Er strahlt. Dann packen wir seine Sachen aus der Reisetasche in einen Rucksack um, später bringe ich ihn zum Bus; ab da übernehmen seine Freunde.
Zum Abschied sagt mein Sohn: „Mom, ärger dich nicht, weil du das Film-Ende verpasst hast. Lektion vier: Frag mich einfach. Der Colonel, der eigentlich kein Colonel war, hat die Nonne enttarnt. – Wir haben den Film schon mal gesehen.“